Jeanne Bernstein wurde am 27. Juli 1924 als viertes Kind der Familie
Bernstein in Stuttgart geboren. Ihre Eltern Bernhard und Hulda Bernstein
hatten ein ein Kaufhaus für Aussteuerwäsche, Gardinen, Damen-, Herren- und Kinderbekleidung sowie Damenwäsche in Kirchheim unter Teck. Ihre Mutter wurde am 4. September 1883 als Hulda Jutkowski in Gnesen geboren, über ihre Kindheit ist nichts bekannt. 1907 heiratete sie den ein Jahr älteren Bernhard Bernstein (* 6. 6. 1882) im preußischen Culm an der Weichsel. Hier lebten auch Huldas Eltern, der Kantor Isaak Jutkowski und dessen Frau Sara.
Hulda, die mit der Heirat den Namen ihres Mannes angenommen hatte, und
Bernhard Bernstein zogen in den Nachbarort Schwetz, wo dieser am 6. Juni
1882 geboren worden war. Hier bekam das Ehepaar am 18. Dezember des
Jahres 1910 ein erstes Kind: Alfred. Zweieinhalb Jahre später, am
11. Mai 1913, kam Gerda zur Welt. Aufgrund von Übergriffen auf die
jüdische Bevölkerung zog die Familie kurz nach der Geburt der Tochter
nach Kirchheim unter Teck in der Nähe von Stuttgart. Dort eröffneten sie
in der Max-Eyth-Straße 12 am 27. Februar 1914 mithilfe ihrer in Ulm
lebenden Verwandten Jakob Bernstein (* 16. 6. 1880) und dessen Frau Selma (geb. Kaufmann, * 14. 2. 1889) ihr Kaufhaus. Im gleichen Haus hatte die Familie Bernstein auch eine Wohnung. Nach
acht Jahren in Kirchheim bekamen die Bernsteins am 5. April 1922 einen
weiteren Sohn: Philipp; zwei Jahre darauf wurde Jeanne geboren.
Trotz der vier Kinder half Hulda Bernstein im Laden mit. Sie galt als
tüchtig, elegant und großzügig gegenüber dem Kaufhauspersonal. Der älteste Sohn Alfred arbeitete nach einer Ausbildung zum Kaufmann
ebenfalls im Geschäft mit. Denn Vater Bernhard war in den 1920er-Jahren
schwer an Diabetes erkrankt und benötigte im Laden
Unterstützung. Doch Bernhard Bernsteins Gesundheitszustand
verschlimmerte sich stetig, und die Familie konnte das Geschäft auf
Dauer nicht halten. Im Jahr 1926 übernahm eine Familie namens Stern das Kaufhaus. Bernsteins
betrieben von nun an lediglich einen kleinen Gardinenladen im gleichen
Haus. Ihre finanzielle Situation verschlechterte sich zunehmend, wohl
auch infolge der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise. Bis dahin war es der Familie recht gut gegangen und sie hatten Pferd und Wagen besessen. Die seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten immer zahlreicheren
Einschränkungen des Lebens der Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich
erschwerten zusätzlich die wirtschaftliche Lage der Bernsteins.
Der
Boykott jüdischer Geschäfte vom 1. April 1933 verschonte auch ihr
Kaufhaus nicht. Ein vor dem Laden postierter SA-Mann sollte verhindern,
dass nicht jüdische Kirchheimer dort einkauften. Nachdem Gerda die Schule beendet hatte, war sie 1932 für eine Ausbildung in die Sowjetunion gegangen. Von dort reiste sie am 18. Mai 1933 nach Epsom in England, wo sie vermutlich, wie viele Jüdinnen, die vor 1938 nach Großbritannien flüchteten, als Hausangestellte arbeitete. Ihr Bruder Alfred gelangte einen Monat später mit Unterstützung des jüdischen Hilfskomitees
nach Paris, um sich dort als Siedler ausbilden zu lassen. Frankreich
war nach 1933 bevorzugtes Zufluchtsland und nahm zu dieser Zeit
vorübergehend recht freizügig Verfolgte des nationalsozialistischen
Regimes auf. Hier betrieben jüdische Organisationen ebenso wie in Deutschland Hachschara-Zentren,
in denen junge Flüchtlinge wie Alfred vor dem Weiterzug nach Palästina
ein Handwerk erlernten oder landwirtschaftliche Kenntnisse erwarben, um
sich damit später eine Existenz in Palästina aufbauen zu können. Diese Auslandskontakte missfielen dem Regierungsrat des Württembergischen Innenministeriums. Im Juli 1933 wurde eine Postüberwachung der ganzen Familie Bernstein sowie die Beobachtung durch
die Ordnungspolizei veranlasst. Für ein Jahr wurde die gesamte
Korrespondenz der Familie abgehört und abgefangen. Im August wurde zudem
eine Strafanzeige gegen Bernhard Bernstein wegen eines angeblich
ungedeckten Schecks gestellt. Die Anzeige wurde zwar nach einem Jahr fallengelassen, doch die
Ereignisse belasteten Bernhard Bernstein zusätzlich zu seiner
fortschreitenden Krankheit. Jeanne und Philipp, die als Einzige der
Kinder noch zu Hause wohnten, mussten deshalb bei den Eltern ausziehen
und kamen in die Israelitische Waisen- und Erziehungsanstalt »Wilhelmspflege« oberhalb der Esslinger Burg. Die angegliederte Mittelschule besuchte Jeanne schon seit Ostern 1931. Aus den zahlreichen überlieferten Briefen geht hervor, dass Hulda
und Bernhard Bernstein ihre vier Kinder sehr vermissten. Sie
telefonierten nach Esslingen und schickten ihren beiden Jüngsten Pakete
mit Früchten. Mitte September 1933 schrieb Hulda an die Tochter und den
Sohn im Esslinger Waisenhaus:»Meine geliebten
Kinderle, […]. Zu Schabbes sende ich Euch meine u. Papas herzliche
Grüsse. Diese Woche konnten wir Euch leider nichts schicken, aber
nächste Woche bestimmt. Von Gerda kam ein 14 Seiten langer Brief vom 12.
Aug. an, Deinen Brief lieber Phil. hat sie auch bekommen. Sie
schreibt Euch wieder einmal. Sonst weiss ich nichts Neues zu erzählen.
Wir hören wieder Radio, aber mir ist ganz miess davor, ich machs immer
wieder aus.« Die Polizeidirektion Esslingen wertete diese Aussage zwar als staatsfeindliche Einstellung; ob aus dieser Einschätzung direkte Konsequenzen für Hulda Bernstein folgten, ist allerdings unbekannt. Trotz der Trennung von den Eltern gefiel
es Jeanne und Philipp im Waisenhaus, wie ein überlieferter Brief zeigt.
Im Oktober schreibt Philipp an seine Schwester Gerda nach England: »Deine liebe Karte habe ich erhalten. […] Gerda
Du kannst Dir gar nicht denken wie gerne ich hier bin. Am 1. Okt. war
Erntedankfest u. am 2. Hindenburgs Geburtstag. Was machst du andauernd
in London? Ich werde Dir jeden Sonntag schreiben. Es gibt noch mehrere
hier, deren Eltern oder Geschwister im Ausland sind. Jetzt kann [ich]
wirklich nichts mehr schreiben, draußen rufen sie gerade, wer mit Räuber
u. Gendarm spielt.« Wegen der Überwachung durch die Gestapo kamen Briefe, die sich die
Familienmitglieder schrieben, häufig gar nicht oder mit Verspätung an.
Besonders Alfred in Paris erreichte häufig keine Post von den Eltern:»Nun habe ich schon seit Monaten nichts mehr von Euch gehoert, was ist
los, seid Ihr alle gesund […] Gerda schreibt mir auch nicht, obwohl sie
meine Adresse hat. […] Ich bin eigentlich in grosser Sorge um Euch.« Als er keine Antwort erhielt, wandte er sich an seine Geschwister in Esslingen: »Wie
geht es Euch, ich hoffe, dass es Euch in Esslingen gut gefällt. Ich
habe schon lange nichts mehr von den Eltern gehört, was machen die denn,
geht’s denen gut. Auch Gerda schreibt nicht. Den letzten Brief habe ich
von Mutter am 20. Juli erhalten, das war alles. Bitte schreibt bald,
wie es Euch geht, was Ihr macht.« Im Laufe des Jahre 1933 verschlechterte sich Bernhard Bernsteins
Gesundheitszustand immer mehr, und im November musste er in ein
Krankenhaus. Als Gerda davon erfuhr, ließ sie sich für vier Wochen von
ihrer Stelle in England freistellen und reiste nach Deutschland.
Schließlich beschloss sie, nicht nach England zurückzukehren, um näher
bei ihrem Vater zu sein. Ab Herbst 1933 arbeitete sie bei dem
Pelzhändler Fritz Weissler in Berlin als Kinderfräulein. Schon
ein halbes Jahr später, am 8. Januar 1934, erlag Bernhard Bernstein
seiner Krankheit. Er wurde wie alle verstorbenen Jüdinnen und Juden aus
Kirchheim unter Teck auf dem Friedhof im nahe gelegenen Göppingen beerdigt. Der Tod des Vaters traf seinen Sohn Alfred in Paris unerwartet, und er machte sich deswegen Vorwürfe: »Ich
habe nicht gedacht, dass es mit Vater so schnell gehen würde. Es ist
wahr, sein Leben war in den letzten Jahren sehr schwer, ein Leidensweg.
Ich weiss, dass viel Schuld an mir liegt, ich hätte alles besser
übersehen müssen, und auf der anderen Seite weniger egoistisch [sic!],
es wäre vieles besser gegangen. Aber was hilft das. Jeder Tag bringt
neue Sorgen«, schrieb er kurz darauf an seine Mutter. Diese
lebte nach dem Tod ihres Mannes allein in einer Dachkammer des Hauses,
das einst das Kaufhaus der Familie gewesen war. Da Hulda Bernstein nun kein Einkommen mehr hatte und nur noch wenig
besaß, war sie auf Unterstützung durch Verwandte angewiesen. Sie
überlegte, ihrem Sohn Alfred nach Frankreich zu folgen, doch dieser
hielt die Zustände in Paris für zu schlecht, um seine Mutter nachkommen
zu lassen. Schon für ihn reichte das Geld kaum, da sich auch in
Frankreich die innenpolitische Situation zunehmend anspannte und
Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit spürbar wurden.
Im Oktober schrieb
er nach Hause: »Eines muss ich Euch sagen, in
den ersten Wochen ist für uns gesorgt worden, das ist jetzt vorbei, ich
hoffe aber auf eine bessere Zeit. Angst habe ich nur vor dem Winter,
weil ich keine Kleider habe. Der Anzug von Onkel Lazarus kam mir sehr
zustatten, nur ist die Hose jetzt total zerrissen, so dass ich
eigentlich noch Lumpen habe. Des ungeachtet bin ich guten Mutes. Ich
habe etwas womit ich 5 Frs: den Tag verdiene, das sind ungefähr –,80 Pf.
Das reicht wenigstens das Zimmer jede Woche zu bezahlen. Essen tue ich im Obdachlosenasyl; das liegt
hoch oben bei der berühmten Sacre Coeur Kirche, wenn Ihr schon davon
gehört habt. Hier in Frankreich ist das Leben viel leichter zu ertragen,
wie in Deutschland, deshalb habe ich auch keine verzweifelte Stimmung.« Für eine Überfahrt nach Palästina fehlte Alfred Bernstein aber das Geld, und er bat seinen Onkel Louis Jutkowski,
den Bruder von Hulda, um die Übernahme der 275,85 Reichsmark für die
Fahrtkosten. Zusätzlich war Alfreds Pass abgelaufen und das Oberamt
Kirchheim erteilte der deutschen Botschaft in Paris keine Ermächtigung,
ihm einen neuen auszustellen. Der Einsatz seiner Mutter vor Ort in
Kirchheim nützte ebenfalls nichts. Im April 1934 informierte das
Landespolizeiamt das Auswärtige Amt darüber, dass Alfred nach
Deutschland zurückkehren wolle. »Es handelt sich bei ihm um einen Juden des übelsten Typs. Eine Rückkehr des Bernstein nach Deutschland erscheint unerwünscht.« Alfred galt den deutschen Behörden als »gefährlicher Emigrant«, und er erhielt weiterhin keine gültigen Papiere für eine Ausreise. Auch sonst wurde das Leben in Paris für ihn immer schwieriger. Er verlor
seine Arbeit und befürchtete, aufgrund seines schäbigen Aussehens
ausgewiesen zu werden. Um dies zu verhindern, bat er seinen Großonkel in
Ulm, ihm einen Anzug zu schicken, und fragte auch seine Mutter nach
einem solchen vom verstorbenen Vater: »Weißt du, ich brauche dringend einen Anzug, da
alles so sehr zerrissen ist. […] Es ist eben alles sehr schwer
geworden. […] Ich habe ja einen kleinen Platz, aber wie lange?
Hoffentlich geht es Gerda gut. Das Leben ist doch wirklich erstaunlich,
die ganze Familie ist auseinandergerissen.« Alfred nahm 40 Pfund ab und erkrankte, sodass er ins Krankenhaus musste. Seine Mutter unterstützte ihn derweil, wo sie konnte, und schickte ihm ab und zu etwas von ihrem wenigen Geld. Trotz der widrigen Umstände wollte Alfred nicht nach Hause zurückkehren; das wäre wie »den Kampf aufgeben mit dem Leben.« Hulda Bernstein versuchte ihrerseits, das Beste aus den Umständen zu
machen. Sie erwog eine Emigration nach Palästina. Wegen der
Anstrengungen einer Ausreise riet ihr aber ihr in Berlin lebende Bruder
Dr. Louis Jutkowski ab. Schließlich beschloss sie, ebenfalls nach Berlin
zu ziehen, und verließ Kirchheim noch im Todesjahr ihres Mannes. In den
darauffolgenden Jahren wechselte Hulda Bernstein aus unbekannten
Gründen mehrfach den Wohnort: Im November meldete sie sich von Berlin
aus schriftlich bei der Kirchheimer Polizei ab und gab
Berlin-Charlottenburg, Krummestraße 60, als ihren neuen Wohnort an. Im
April des Folgejahres war sie im württembergischen Michelbach an der Lücke gemeldet. Im Sommer 1935 hielt sie sich in Brettheim im Krankenhaus auf und war anschließend zehn Tage zur Erholung im Kurort Bad Mergentheim. Danach zog sie nach Stuttgart, wo sie erneut überwacht wurde. Bei der Volkszählung 1939 wohnte Hulda dann zur Untermiete in Berlin-Friedrichshain in der Klopstockstraße 24 und arbeitete bei einer Frau namens Bertha Kallis
(* 5. 6. 1880 in Berlin) als Wirtschafterin. Ob sie jeweils bei
Verwandten unterkam, ist unbekannt. Ihr Bruder Louis Jutkowski, der mit
seiner Frau Recha zuletzt im Jüdischen Altersheim in der Iranischen Straße in Berlin gelebt hatte, war ein Jahr zuvor, am 10. Mai 1938, im Jüdischen Krankenhaus Berlin
an Verkalkung der Hirnarterie verstorben; hatte also vermutlich einen
Schlaganfall erlitten. Er wurde drei Tage später auf dem Jüdischen
Friedhof Weißensee begraben. Huldas Schwägerin Recha Jutkowski, geb. Engel (* 27. 1. 1875 in Filehne/Posen), wurde am 25. Januar 1942 nach Riga
deportiert. Ihre beiden Kinder Alfred (* 27. 8. 1907) und Hilde
Jutkowski (* 4. 10. 1911) sind auf unbekanntem Weg nach Palästina
entkommen. Auch Philipp Bernstein konnte Dank der Kinder- und Jugendalijah im
Dezember 1937, fast fünf Jahre nach der Gründung der jüdischen
Hilfsorganisation am Tag der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933, im
Alter von 16 Jahren nach Palästina fliehen. Wie für Tausende andere
Kinder und Jugendliche war der Einsatz von Recha Freier aus Norden in
Ostfriesland, der Frau des Berliner Rabbiners Moritz Freier und
Gründerin der Alijah, seine Rettung. Hulda Bernstein gab in der
Vermögenserklärung, die sie im November 1941 auszufüllen hatte, als
Philipps Wohnort in Palästina eine Siedlung in der Nähe von Nazareth an. Die zwei Jahre jüngere Jeanne blieb vorerst im Esslinger Waisenhaus. Während des Novemberpogroms 1938
stürmten Nationalsozialisten das Haus und verwüsteten es. Sie bedrohten
und vertrieben Jeanne, die anderen Kinder und die Betreuer und
Betreuerinnen aus dem Haus, teils wurden sie misshandelt. Jeanne kam
vorerst bei einer Tante in Stuttgart unter. Nach der kurzeitigen Wiedereröffnung des Hauses »Wilhelmspflege« im
Februar 1939 kehrte Jeanne dorthin zurück. Bald darauf ging sie aber zu
ihrer Mutter nach Berlin. Der genaue Zeitpunkt ihres Umzuges ist
unbekannt; das Waisenhaus wurde jedoch im August geschlossen. Bei der
Volkszählung vom 17. Mai 1939 wohnte Jeanne noch in Esslingen. Einige
Zeit vor ihrer Abreise schrieb sie an eine ehemalige Betreuerin aus dem
Waisenhaus: »Liebe Rosi, Vielen Dank für deinen schönen
Brief. Wir haben oft an Dich gedacht. […] Es sind jetzt nur ungefähr
vierzig Kinder. Außer dem ›Sechser‹ sind alle Schlafsäle offen. Von
Deinen Kleinen sind fast noch alle da, der kl. Gerd ist in Stuttgart.
Horst ist groß geworden, u. Fredy Rosenfeld kommt am Montag nach
England. […] In Deinem Zimmer wohnt Rosi Hain, die jetzt auch sehr bald
auswandert. Hoffentlich habe ich Dir jetzt Deine Fragen alle
beantwortet. […] Herzliche Grüße sendet Jeanne Bernstein.« Jeanne, die Jüngste der Familie Bernstein, erhielt von 1939 bis 1940 eine landwirtschaftliche Ausbildung, vermutlich im Hachschara-Lager Ahrensdorf
in Brandenburg. Das im Oktober 1936 eröffnete Landwerk Ahrensdorf im
Nuthe-Urstromtal war eines von zahlreichen Ausbildungsstätten für
jüdische Mädchen und Jungen in Deutschland. Das dort erlernte Handwerk
sollte Jeanne ebenso wie ihrem Bruder Alfred, der in Frankreich in einer
ähnlichen Ausbildungsstätte gewesen war, eine spätere Einreise nach
Palästina erleichtern. Die von jüdischen Jugendbünden betriebenen
Ausbildungsstätten wurden von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland finanziell gefördert. So auch das Landwerk im Jagdschloss »Berdotaris«
in Ahrensdorf, das vom jüdischen Pfadfinderbund »Makkabi Hazair«
betrieben wurde. Mit dem Verbot jeglicher Berufsausbildung für Jüdinnen
und Juden Mitte 1941 wurde auch Ahrensdorf zwangsweise aufgelöst. Danach wurde Jeanne Bernstein zur Arbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet und musste Zwangsarbeit bei der Siemens Schuckert AG verrichten,
die mehrere Lager für Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter in Berlin
besaß.
Jeanne Bernstein war zuletzt in der Suarezstraße 55 im Bezirk
Charlottenburg gemeldet. Der letzte bekannte Wohnsitz ihrer Mutter ist die Tile-Wardenbergstraße
11, wo nun auch Bertha Kallis lebte, bei der sie weiterhin angestellt
war. Diese betrieb hier mit ihrem Mann Wilhelm Kallis mindestens bis 1938 eine Pelz- und Textilwarenfabrik. Sie wurde wie Recha Jutkowski am 25. Januar 1942 ins Ghetto Riga deportiert. Über das Schicksal ihres Mannes ist nichts bekannt. Der letzte Aufenthaltsort Huldas ist die Bochumer Straße 14 oder 18. Bis
Kriegsausbruch im September 1939 hatte Hulda Bernstein noch Kontakt mit
ihrem Sohn Philipp gehabt; dann hörte er nie wieder von ihr. Am 14. November 1941 wurden
die 58-jährige Hulda Bernstein und ihre 17-jährige Tochter Jeanne nach
Minsk deportiert. Jeannes Geschwister überlebten die Shoah. Alfred Bernstein schaffte es,
Paris zu verlassen, und reiste über Mailand und Marseille nach Bolivien,
wo ihm jedoch die Einreise verweigert wurde. Ohne Visa konnte er
lediglich in Schanghai Aufnahme finden. Er traf dort am 16. April
1939 mit dem Schiff »Jean Laborde I« ein und fand wie etwa 18 000 bis
20 000 andere Emigranten für die folgenden zehn Jahre Schutz im Ghetto
Schanghai. Im Februar 1948 heiratete Alfred Nora Brown und emigrierte im September des darauffolgenden Jahres ins kanadische Montreal. Alfreds Schwester Gerda Bernstein lebte ab November 1941 wieder in
Großbritannien. Eventuell hatte sie zuvor schon die britische
Staatsbürgerschaft angenommen und konnte so das ab Oktober 1941 geltende
Ausreiseverbot für Juden aus Deutschland oder den besetzten
Gebieten umgehen. In London war sie kurze Zeit mit einem norwegischen
Soldaten mit dem Nachnamen Rosen verheiratet, der jedoch bald im Krieg
umkam. Sie selbst verstarb 1967 in London. Philipp Bernstein kämpfte in der Jüdischen Brigade, einer
kämpfenden Einheit innerhalb der Britischen Armee, deren Bildung am 3.
Juli 1944 bewilligt worden war. Der britische Premierminister Winston
Churchill hatte sich für deren Gründung eingesetzt, nachdem der
Präsident der Zionistischen Weltorganisation und spätere israelische
Staatspräsident Chaim Weizmann die Bereitschaft, auf der britischen
Seite gegen Deutschland zu kämpfen, signalisiert hatte. Die Brigade war
ab März 1945 bis Kriegsende in Italien gegen die Achsenmächte in
Einsatz. Nach dem Krieg ließ Philipp Bernstein sich in einem Kibbuz
nieder. Er heiratete 1946 Margit Oppenheimer (* 31. 5. 1922) aus
Stuttgart, die bis 1937 mit Jeanne im Waisenhaus und auf der
angegliederten Schule gewesen war und noch lange mit Jeanne in Kontakt
gestanden hatte.