Siemensstr. 13-14, Tiergarten

Helmut Krotoszyner
* 27.03.1917 in Berlin

Johanna Krotoszyner
* 28.07.1915 in Berlin

Leo Krotoszyner
* 31.12.1879 in Breslau

Manfred Krotoszyner
* 19.06.1919 in Berlin

Als Leo Krotoszyner im Mai 1939 die Ergänzungskarte zur Volkszählung für seine Familie ausfüllte, trug er zunächst nichts in die Spalten zur Feststellung der »Rassezugehörigkeit« der im Haushalt lebenden Personen ein. Stattdessen verwies er auf einen beigefügten Brief, in dem er die Herkunft seiner Vorfahren erläuterte. Demnach seien diese südrussischen Verfolgten gewesen, die im 18. oder 19. Jahrhundert in das Gebiet der damaligen Provinz Posen einwanderten. Leo Krotoszyners Vater war 1846 in Ostrowo, im Südosten der damals noch zum Königreich Preußen gehörenden Provinz, geboren worden. Im Laufe seines Lebens zog Leo Krotoszyners Vater in die schlesische Stadt Breslau und gründete eine Familie. Auch Leo Krotoszyner kam dort am 31. Dezember 1879 zur Welt. Sein Vater starb 1905.
Leo Krotoszyners spätere Frau Rosa Lubliner (*17.10.1884) kam aus Posen. Sie wuchs im Landkreis Kempen auf. In seinem Schreiben an das Statistikamt, welches die Volkszählung 1939 durchführte, verwies Leo Krotoszyner auch auf den Familienname seiner Frau: Lubliner. Ihre Abstammung lasse ebenfalls auf eine südrussische Herkunft schließen. In jener Gegend Russlands traten ganze Familienverbände dem Judentum bei und heirateten untereinander, so Leo Krotoszyners Erläuterungen. Der Religion nach sei die Familie immer schon jüdisch gewesen. Ob seine Großeltern sowie die Großeltern seiner Frau und seiner Kinder jedoch der »Rasse« nach jüdisch wären, könne er nicht sagen.
Seine Frau Rosa und er lebten bereits seit 25 Jahren in Berlin als er diese Zeilen an das Statistikamt schrieb. Schon 1914 findet sich in den Berliner Adressbüchern ein Eintrag zu Leo Krotoszyner. Damals lebte er und vermutlich auch seine Frau Rosa in der Neuen Kantstraße 15 in Charlottenburg. Am 28. Juli des darauffolgenden Jahres wurde ihr erstes Kind Johanna Marie, auch Hanni genannt, geboren. Leo Krotoszyner war zur damaligen Zeit als Fabrikdirektor beschäftigt. Wo und in welchem Betrieb er arbeitete, ist leider unbekannt.  Ab 1918 wechselte er seinen Beruf und war fortan als Kaufmann tätig. Die junge Familie blieb zwar in Charlottenburg, zog aber ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter Hanni, 1916, in eine Erdgeschosswohnung in der Riehlstraße 13. Im gleichen Haus wohnte auch der Ingenieur Ernst Krotoszyner, vermutlich war er ein Verwandter Leo Krotoszyners, der ebenfalls aus Breslau stammte.
Nur wenige Monate nach dem Umzug in die Riehlstraße kam der Sohn Helmut zur Welt. Das dritte Kind Manfred wurde zwei Jahre später geboren. Die Familie zog 1922 erneut um, diesmal in die Berliner Straße 153, die heutige Otto-Suhr-Allee. Dort wohnte die fünfköpfige Familie bis 1928. Danach lebten sie vier Jahre lang am Hansaufer 6 bevor die Familie 1933 in die Siemensstraße 13-14 in den Stadtteil Berlin-Tiergarten zog.
Die Kinder der Familie Krotoszyner waren sehr den schon erwachsenen Töchtern des österreichischen Lyrikers und Dramaturgen Dr. Richard Beer-Hoffmann (1867 – 1945) zugetan. Davon zeugen auch die Briefe, die Rosa, Helmut und Johanna Krotoszyner an Miriam und Naemah Beer-Hoffmann in den 1920er Jahren nach Wien schrieben.

Abschrift: 
24.8.25
Sehr geehrtes Fräulein.
Durch Zufall finde ich im Kinderzimmer einen Brief, den mein Sohn Helmut an Sie geschrieben hat. Anscheinend haben Sie sein kleines Herz sehr erobert und ich möchte Ihnen das Gedenken eines Kindes, trotz der vielen orthographischen Fehler nicht vorenthalten. 
Es tut mir leid, dass ich Sie und Ihre Frau Schwester nicht gesprochen hatte, hoffentlich sehen wir uns noch mal im Leben wieder. 
Mit besten Wünschen für Ihr Wohlergehen mir herzlichem Gruss
Ihre Sie hochschätzende Rose Krotoszyner.

Wie die Freundschaft zwischen beiden Familien zustande kam, kann nicht genau gesagt werden. Jedoch führte Richard Beer-Hofmann für mehrere Monate Regie am Großen Schauspielhaus in Berlin. Vermutlich hatten sie sich bei dieser Gelegenheit in Berlin kennengelernt. In einem Brief aus dem Jahr 1925 fragte Helmut Naemah Beer-Hoffmann, ob sie Wien schöner fände als Berlin. Er schrieb ihr im selben Brief auch, dass er ab Ostern auf das Gymnasium gehen würde und sich schon sehr darauf freue. Die Briefe, die die Kinder an Naemah Beer-Hoffmann schrieben endeten immer mit den liebsten Grüßen und der erst achtjährige Helmut sendete sogar einen galanten Handkuss. In einem weiteren Brief berichtet der handwerklich begabte Helmut, dass er zum Chanukka Fest drei Laubsägen geschenkt bekommen hatte. Auch schrieb er voller Stolz, dass er nun der Klassenbeste sei und später einmal Ingenieur werden möchte.

Abschrift: 
Charlottenurg den 16. IX. 25.
Berlinerstr. 153
Liebes Fräulein Naemah!
Ich habe mich über ihre Karte sehr gefreut. Mutti hat gesagt ich strahlte über das ganze Gesicht. Ich danke Ihnen herzlich. Die Karte habe ich mir zur Erinnerung an Sie in einem Album aufbewahrt. Nun wünsche ich Ihnen viel Glück im neuen Jahr, dass Sie immer gesund bleiben und glücklich werden. Ich bin jetzt der erste in der Schule und möchte gerne ein Ingeniör werden. 
Guten Jantoff wünscht Ihnen mit einem Handkuss Ihr Sie liebender Helmut Krotoszyner.
Fredel lässt auch schön grüssen. [Handschrift Manfred Krotoszyner]
Gleichfalls ein frohes gesundes Jahr wünsch Ihnen liebes. Frl. Naema Ihre Hanni einen Herzlichen an Frau Mirjam sie selbst vielmals gegrüßt von Ihrer Sie liebenden Hanni
Johanna Krotoszyner.


Helmut Krotoszyner konnte seinen Wunsch Ingenieur zu werden nicht verwirklichen. Im Alter von 24 Jahren wurde er mit seinem 61-jährigen Vater Leo und den beiden Geschwistern Johanna und Manfred nach Minsk deportiert. Seine Mutter Rosa Krotoszyner war kurz vorher am 29. Oktober 1941 verstorben und auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt worden. Ihre Todesanzeige erschien im Jüdischen Nachrichtenblatt, sieben Tage bevor die Familie abtransportiert wurde.

Autor/Autorin: Kristin Schneider